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Zur Verfassungsmäßigkeit des Sachkundenachweises nach dem Einzelhandelsgesetz - "Kaugummi-Beschluss" -

(Abschrift)

Beschluss des Ersten Senats vom 11. Oktober 1972

- 1 BvL 2/71 - bzw. BVerfGE 34, 71

In dem Verfahren wegen verfassungsrechtlicher Prüfung des § 3 Abs. 2 Nr. 1 und Abs. 3 Satz 2 sowie des § 4 Abs. 2 bis 4 des Gesetzes über die Berufsausübung im Einzelhandel vom 5. August 1957 (BGBl. I S. 1121), soweit die Sachkunde für den Einzelhandel mit Lebensmitteln nachzuweisen ist, - Aussetzungs- und Vorlagebeschluss des Verwaltungsgerichts Hannover vom 12. Oktober 1970 - VI A 58/70 -.

Entscheidungsformel:

Das Gesetz über die Berufsausübung im Einzelhandel vom 5. August 1957 (Bundesgesetzbl. I S. 1121) ist mit Artikel 12 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes unvereinbar, soweit es keine Möglichkeit vorsieht, für den Einzelhandel mit Lebensmitteln eine auf bestimmte Warenarten beschränkte Erlaubnis zu erteilen und für den Sachkundenachweis entsprechend geringere Anforderungen zu stellen.

Gründe:

A. - I.

Zur Ausübung des Einzelhandels ist nach § 3 Abs. 1 des Gesetzes über die Berufsausübung m Einzelhandel vom 5. August 1957 (EinzelHG) eine Erlaubnis erforderlich. Diese darf nach dem Wortlaut des § 3 Abs. 2 Nr. 1 EinzelHG nicht erteilt werden, wenn

weder der Unternehmer noch eine zur Vertretung des Unternehmens gesetzlich berufene noch eine von dem Unternehmer mit der Leitung des Unternehmens beauftragte Person die erforderliche Sachkunde nachweisen kann.

Durch Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Dezember 1965 (BverfGE 19, 330) wurde § 3 Abs. 2 Nr. 1 EinzelHG für nichtig erklärt, soweit er den Einzelhandel mit Waren aller Art mit Ausnahme der in 6 3 Abs. 3 Satz 2 EinzelHG genannten Waren - das sind unter anderem Lebensmittel im Sinne des § 1 Abs. 1 des Lebensmittelgesetzes - betrifft. Für den Einzelhandel mit Lebensmitteln ist daher der Nachweis der Sachkunde noch erforderlich. In welchen Fällen dieser Nachweis als erbracht anzusehen ist, regelt § 4 Abs. 2 bis 4 EinzelHG wie folgt:

(2) Absatz 1 gilt nicht für den Einzelhandel mit Lebensmitteln im Sinne des § 1 Abs. 1 des Lebensmittelgesetzes, mit Arzneimitteln und ärztlichen Hilfsmitteln - ausgenommen aus amtsärztlich kontrollierten Drogenschränken. Den Nachweis der Sachkunde für den Einzelhandel in einem dieser Warenzweige hat erbracht, wer
1. nach Ablegung der Kaufmannsgehilfenprüfung eine praktische Tätigkeit von mindestens drei Jahren in einem Handelsbetrieb des entsprechenden Warenzweiges ausgeübt hat oder
2. eine für den Handel in dem entsprechenden Warenzweig anerkannte Prüfung abgelegt und danach eine praktische Tätigkeit von mindestens zwei Jahren in einem Handelsbetrieb des entsprechenden ) Warenzweiges ausgeübt hat oder
3. die Voraussetzungen des Absatzes 3 für den entsprechenden Handelszweig erfüllt.
(3) Die Sachkunde im Sinne des Absatzes 1 besitzt ferner, wer eine mindestens fünfjährige kaufmännische Tätigkeit, davon eine zweijährige leitende Tätigkeit, nachweisen kann.
(4) Wer die Voraussetzungen der Absätze 1 bis 3 nicht erfüllt, kann die Sachkunde für den Einzelhandel in einer besonderen Prüfung vor der von der höheren Verwaltungsbehörde errichteten und ihrer Aufsicht unterstehenden Stelle nachweisen. Dies gilt auch für den Einzelhandel mit Lebensmitteln, Arzneimitteln und ärztlichen Hilfsmitteln im Sinne des § 3 Abs. 3 …

Zu den Lebensmitteln im Sinne des 6 1 Abs. 1 das Lebensmittelgesetzes vom 17. Januar 1936 (RGBI. 1 S. 17) gehören nach der Fassung d'eser Vorschrift durch das Änderungsgesetz vom 21. Dezember 1958 (BGB. 1 S. 950) auch Stoffe, die dazu bestimmt sind, von Menschen gekaut zu werden, also auch Kaugummi.

Einzelhandel betreibt nach § 1 Abs. 1 EinzelHG, wer gewerbsmäßig Waren anschafft und sie unverändert oder nach im Einzelhandel üblicher Be- oder Verarbeitung in einer oder mehreren offenen Verkaufsstellen zum Verkauf an jedermann feilhält. Zu den offenen Verkaufsstellen gehören nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 des Ladenschlussgesetzes vom 28. November 1956 (BGBl. § 1 S. 875) auch Warenautomaten (BverfGE 19, 330 [332]).

Die Erlaubnis nach dem Einzelhandelsgesetz ist unter anderem nicht erforderlich, wenn nach dem Tode des bisherigen Unternehmers der überlebende Ehegatte (§ 6 Nr. 1) oder die Erben - diese allerdings nur bis zur Dauer von fünf Jahren - den Einzelhandel fortsetzen (§ 6 Nr. 2). Ferner sind die Vorschriften des Einzelhandelsgesetzes nicht anwendbar für das Hausieren sowie für den Straßen- und Markthandel (§ 2).

II.

Die Klägerin des Ausgangsverfahren ist Eigentümerin von 12 Warenautomaten, die an verschiedenen Stellen, des Stadtgebietes von Hannover aufgestellt sind. Sie verkauft damit unverpackte Kaugummikugeln, denen Fußballbilder beigegeben sind.

Von der zuständigen Behörde auf die Erlaubnispflicht des von ihr betriebenen Handels aufmerksam gemacht, beantragte die Klägerin des Ausgangsverfahrens im November 1969 eine Einzelhandelserlaubnis. Sie gab zum Nachweis ihrer Sachkunde an, dass sie von 1957 bis 1960 zunächst als Volontärin im Textileinzelhandel und danach bis 1967 als Kontoristin im elterlichen Betrieb, einer Suppenkonservenfabrik, tätig gewesen sei. Prüfungen habe sie nicht abgelegt. Die Beklagte des Ausgangsverfahrens - die Landeshauptstadt Hannover - lehnte den Antrag mit der Begründung ab, diese berufliche Tätigkeit reiche nicht aus, um die Sachkunde für den Lebensmitteleinzelhandel nachzuweisen.

Mit der nach erfolglosem Widerspruch erhobenen Klage macht die Klägerin des Ausgangsverfahrens geltend, es verstoße gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, wenn der Vertrieb von Kaugummi durch Automaten den strengen gesetzlichen Anforderungen für den Vertrieb von Lebensmitteln unterworfen werde. Kaugummi sei ein völlig ungefährlicher Süßwarenartikel. Er bleibe bis zu einem halben Jahr frisch und werde danach allenfalls äußerlich unansehnlich. In den Automaten werde er hygienisch einwandfrei gespeichert. Jeder Automat werde alle zwei bis sechs Wochen mit frischer Ware versorgt und dabei auch gereinigt.

Die Beklagte des Ausgangsverfahrens vertritt den Standpunkt, auch für den Vertrieb von Kaugummi sei der für den Lebensmitteleinzelhandel geforderte Sachkundenachweis zu erbringen. Die Gummikugeln seien in den Automaten unmittelbar der Lichteinwirkung, Hitze und Kälte ausgesetzt. Sie müssten daher ständig sachkundig überprüft werden, um die Verbraucher vor Gesundheitsschäden zu bewahren.

Das Verwaltungsgericht hält das Erfordernis des Sachkundenachweises in der für den Einzelhandel mit Lebensmitteln in 3 Abs. 2 Nr. 1 und Abs. 3 Satz 2 sowie § 4 Abs. 2 bis 4 EinzelHG angeordneten Weise für nicht mit dem Grundgesetz vereinbar. Es hat dem Bundesverfassungsgericht die Frage zur Entscheidung vorgelegt, ob § 3 Abs. 2 Nr. 1 und Abs. 3 Satz 2 sowie 4 Abs. 2 bis 4 EinzelHG, soweit die Sachkunde für den Einzelhandel mit Lebensmitteln nachzuweisen ist, gegen Art. 12 verstoßen.

Die Klägerin des dortigen Verfahrens bedürfe, wenn sie Kaugummi aus Automaten vertreibe, der Erlaubnis für den Einzelhandel mit Lebensmitteln. Zu deren Erteilung seien jedoch die Voraussetzungen über den Nachweis der Sachkunde nicht erfüllt. Sie habe weder die Kaufmannsgehilfenprüfung noch sonst eine Fachprüfung abgelegt; sie sei auch nicht fünf Jahre kaufmännisch im Lebensmitteleinzelhandel tätig gewesen. Auch einer Sachkundeprüfung nach § 4 Abs. 4 EinzelHG habe sie sich nicht unterzogen. Nach den Bestimmungen des Einzelhandelsgesetzes sei daher die beantragte Erlaubnis zu versagen.

Den Anforderungen, die an eine subjektive Berufszulassungsvoraussetzung zu stellen seien, werde aber der für den Lebensmitteleinzelhandel geforderte Sachkundenachweis nicht gerecht. Soweit allgemeine kaufmännische Kenntnisse verlangt würden, ergebe sich die Unvereinbarkeit dieser Forderung mit Art. 12 Abs. 1 GG bereits aus den Erwägungen, die zur Annahme der Verfassungswidrigkeit des Verlangens nach dem Sachkundenachweis für den Einzelhandel mit Waren aller Art geführt habe.

Auch das weitere Erfordernis, der Nachweis von Warenkenntnissen, sei mit Art. 12 Abs. 1 GG nicht vereinbar. Es sei zwar davon auszugehen, dass derartige Kenntnisse dazu beitragen könnten, die Allgemeinheit vor Gefahren zu schützen, die durch die unsachgemäße Behandlung von Lebensmitteln während des Vertriebs entstünden. Deshalb könne auch der Zugang zum Beruf des Lebensmitteleinzelhändlers durchaus vom Nachweis derartiger Kenntnisse abhängig gemacht werden. Für den Warenkundenachweis in seiner jetzigen Ausgestaltung sei es jedoch zweifelhaft, ob er geeignet sei, diesen Schutzzweck zu erfüllen. Der Gesetzgeber verlange keine besonderen Kenntnisse für die Waren, deren Vertrieb beabsichtigt sei, sondern fordere allgemeine Kenntnisse und Erfahrungen, die der Bewerber in einem beliebigen Zweig des Lebensmitteleinzelhandels erwerben könne. Be der Vielzahl verschiedener Lebensmittel sei es nicht ohne weiteres zu erwarten, dass jeder Bewerber, der diesen Sachkundenachweis erbringe, auch tatsächlich die fachlichen Kenntnisse besitze, die er für die besondere Art des von ihm beabsichtigten Einzelhandels benötige.

Schließlich habe der Gesetzgeber auch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht beachtet, da von jedem Bewerber allgemeine, d. h. umfassende Kenntnisse auf dem Gebiet des Einzelhandels verlangt würden, Um den Gesetzeszweck zu erfüllen, würde es genügen, wenn der Bewerber lediglich besondere Kenntnisse für die Waren nachweise, die er tatsächlich vertreiben wolle. Daher müsse beachtet werden, welche Gefahr der Gesundheitsschädigung durch unsachgemäße Lagerung und Behandlung des einzelnen Lebensmittels gegeben sei. Bei Lebensmitteln, die von Natur aus haltbar seien oder durch Bearbeitung haltbar gemacht worden seien, sowie bei dauerhaft verpackten Lebensmitteln seien gesundheitliche Schädigungen in geringem Maße oder gar nicht zu befürchten. Diese Waren könnten auch ohne besondere Kenntnisse gefahrlos vertrieben werden. Verlange der Gesetzgeber gleichwohl für alle Lebensmittel dieselben umfassenden Warenkenntnisse, so gehe er über das Maß dessen hinaus, was für einen wirksamen Gesundheitsschutz erforderlich sei. Das gelte um so mehr, als in § 2 EinzelHG ausdrücklich das Feilhalten von Lebensmitteln im ambulanten Gewerbe, an öffentlichen Orten oder im Marktverkehr von den Vorschriften des Einzelhandelsgesetzes ausgenommen sei.

III.

Keines der nach § 77, 82 Abs. 1 BverfGG zu hörenden Verfassungsorgane hat sich zur Vorlage geäußert. Das Bundesverwaltungsgericht hat gemäß 82 Abs. 4 BverfGG wie folgt Stellung genommen:

Es habe es bisher grundsätzlich von der Sache her als gerechtfertigt angesehen, dass der Gesetzgeber die Zulassung zum Beruf des Lebensmitteleinzelhändlers im Interesse der Erhaltung der Volksgesundheit von dem Nachweis einer besonderen Sachkunde abhängig gemacht habe (Urteil vom 23. Juni 1959, DVBl. 1959, S. 664; vom 27. September 1962, GewArch. 1963 S. 36). In der erstgenannten Entscheidung sei darüber hinaus ausgeführt, der Gesetzgeber dürfe die Behörden jedenfalls nur ermächtigen, so viel an kaufmännischem Wissen von dem einzelnen Bewerber zu verlangen, wie zum Betrieb des von ihm beabsichtigten Unternehmens erforderlich sei.

B. - I.

Die Vorlage ist zu lässig.

Das vorlegende Gericht hat die Bestimmungen des § 3 Abs. 2 Nr. 1, des § 3 Abs. 3 Satz 2 sowie des § 4 Abs. 2 bis 4 EinzelHG zur verfassungsmäßigen Prüfung vorgelegt. Diese Vorschriften regeln die Zulassung zum Betrieb eines Einzelhandels mit Lebensmitteln aller Art. Die Klägerin des Ausgangsverfahrens begehrt jedoch offensichtlich nicht eine derartige allgemeine Erlaubnis, sie will lediglich den Vertrieb von Kaugummi durch Warenautomaten gestattet bekommen. Für das vorliegende Verfahren ist es daher zunächst von Bedeutung, ob es gegen das Grundgesetz verstößt, dass das Einzelhandelsgesetz nur eine Erlaubnis zum Betrieb eines Einzelhandels mit Lebensmitteln aller Art kennt und keine auf bestimmte Warensorten beschränkte Erlaubnis mit entsprechend geringeren Voraussetzungen. Nur im Rahmen dieser für das Ausgangsverfahren gegenwärtig allein maßgeblichen Rechtsfrage vermag das Bundesverfassungsgericht auf die Vorlage die Verfassungsmäßigkeit des Einzelhandelsgesetzes zu prüfen (BverfGE 3, 187 [196]).

Aus den Gründen des Vorlagebeschlusses ist ersichtlich, dass auch das Verwaltungsgericht die Prüfung derartig eingeschränkt wissen will, da es eine differenzierende Beachtung der Gesundheitsgefährdung gerade durch den Vertrieb der Waren, mit denen der Bewerber zu handeln beabsichtigt, als erforderlich ansieht. Erst in zweiter Linie, falls das Fehlen einer Bestimmung über eine eingeschränkte Erlaubnis sich als grundgesetzgemäß erweisen sollte, ist die Verfassungsmäßigkeit des Sachkundenachweises für die allgemeine Lebensmitteleinzelhandelserlaubnis zur Prüfung gestellt. Die Vorlage ist daher mit der Maßgabe zulässig, dass zunächst zu prüfen ist, ob das Einzelhandelsgesetz gegen das Grundgesetz verstößt, soweit es keine Möglichkeit vorsieht, für den Einzelhandel mit Lebensmitteln eine auf bestimmte Warenarten beschränkte Erlaubnis zu erteilen und für den Sachkundenachweis entsprechend geringere Anforderungen zu stellen.

II.

Es ist mit dem Grundgesetz nicht vereinbar, daß das Einzelhandelsgesetz die Erteilung einer auf bestimmte Warensorten beschränkten Erlaubnis ausschließt.

1. Die Verfassungsmäßigkeit von Voraussetzungen zur Zulassung zum Beruf des Lebensmitteleinzelhändlers ist an Art. 12 Abs. 1 GG zu messen.

Das Gesetz über die Ausübung des Einzelhandels regelt den Zugang zu diesem Beruf. Das Erforderns der Sachkunde ist eine subjektive Zulassungsvoraussetzung im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BverfGE 7, 337 [406 f.]; 19, 330 [337]). Sie ist, da sie den Bewerber in der freien Berufswahl empfindlich zu beeinträchtigen vermag, nur zum Schutze eines wichtigen Gemeinschaftsgutes gerechtfertigt. Einem derartigen anzuerkennenden Gemeinschaftsinteresse - dem Schutz des Verbrauchers vor der Gefahr gesundheitlicher Schädigung - denen im Grundsatz der Erlaubnisvorbehalt und das Erforderns des Sachkundenachweises für den Betrieb eines Lebensmitteleinzelhandels, auch wenn nur ein beschränktes Sortiment vertrieben werden soll.

2. Der Gesetzgeber hat jedoch, auch wenn das Interesse des Gemeinwohls eine Einschränkung der Berufswahl rechtfertigt, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten, insbesondere muss das eingesetzte Mittel erforderlich sein, um den erstrebten Zweck zu erreichen. Das ist der Fall, wenn der Gesetzgeber nicht ein anderes, gleich wirksames, aber das Grundrecht nicht oder doch weniger fühlbar einschränkendes Mittel hätte wählen können (BverfGE 30, 292 [316]).

a) Die Anforderungen des § 4 Abs. 2 bis 4 EinzelHG zur Gewährung der Erlaubnis für den Einzelhandel mit Lebensmitteln aller Art mögen dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen, da der Schutz der Allgemeinheit vor gesundheitlichen Schädigungen durch unhygienisch oder sonst unsachgemäß behandelte Lebensmittel eingehende Schutzmaßnahmen gebietet. Hier ist jedoch nicht zu prüfen, ob die Anforderungen, die an die Erteilung der Erlaubnis zum Einzelhandel mit Lebensmitteln aller Art gestellt sind, gegen das Grundgesetz verstoßen. Es geht hier zunächst nur darum, zu beurteilen, ob es verfassungsrechtlich zulässig ist, dass das Einzelhandelsgesetz für den Einzelhandel mit nur einzelnen Lebensmitteln keine beschränkte Erlaubnis mit entsprechend geringeren Anforderungen vorsieht.

b) Auch soweit die Berufszulassungsbeschränkung allgemein dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entspricht, kann sie nach Art. 12 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 GG verfassungswidrig sein, wenn nicht in allen wesentlichen geregelten Fällen die Verhältnismäßigkeit gewahrt oder in gleicher Weise gewahrt ist, die Beschränkung also nicht die Ungleichheiten berücksichtigt, die typischerweise innerhalb der betroffenen Berufsgruppen bestehen (BVerfGE 25, 236 [251]; 30, 292 1327]). Das ist anzunehmen, wenn nicht nur einzelne, aus dem Rahmen fallende Sonderfälle, sondern bestimmte, wenn auch zahlenmäßig begrenzte Gruppen typischer Fälle ohne zureichende sachliche Gründe verhältnismäßig stärker belastet werden als andere. Eine derartige verfassungsrechtlich nicht hinnehmbare besondere Belastung ist bei den Unternehmern gegeben, die lediglich ein beschränktes Sortiment im Lebensmitteleinzelhandel vertreiben wollen.

Während das Einzelhandelsgesetz für andere Fälle Ausnahmebestimmungen enthält, z.B. in § 6 für überlebende Ehegatten oder Erben verstorbener Unternehmer - sie bedürfen zur Fortführung des Lebensmitteleinzelhandels keiner Erlaubnis - oder in § 2 für Markthändler - sie dürfen ohne Erlaubnis Lebensmittel vertreiben - , gelten für den Unternehmer, der auch nur mit einem Lebensmittel-Artikel Einzelhandel betreiben will, soweit die genannten Ausnahmebestimmungen für ihn nicht anwendbar sind, die allgemeinen Vorschriften des § 3 Abs. 2 Nr. 1 und des § 4 Abs. 2 bis 4 EinzelHG. Er muss, um hierfür eine Erlaubnis erhalten zu können, eine Sachkunde in einem Maße nachweisen, die für einen Lebensmitteleinzelhandel mit umfangreichem Sortiment erforderlich sein mag, jedoch in keinem Verhältnis zu der von ihm geplanten Tätigkeit steht. Wer lediglich z.B. wie im Ausgangsfall Kaugummi oder sonstige kaum verderbliche Süßigkeiten m Einzelhandel vertreiben will, bedarf, um ohne gesundheitliche Gefährdung für seine Kunden handeln zu können, nicht der in § 4 Abs. 2 bis 4 EinzelHG geforderten Vorbildung oder Prüfung.

Das Einzelhandelsgesetz belastet somit Bewerber, die lediglich ein beschränktes Sortiment von Lebensmitteln vertreiben wollen, verhältnismäßig stärker als Bewerber, die einen umfangreichen Handel mit Lebensmitteln beabsichtigen. Ein hinreichender sachlicher Grund für eine nicht differenzierende Behandlung ist nicht erkennbar. Auch soweit eine besondere, das gegenwärtige Maß übersteigende Überwachungstätigkeit erforderlich sein sollte, um die Einhaltung beschränkter Erlaubnisse zu sichern, vermag dies nicht den grundsätzlichen Ausschluss einer derartigen Möglichkeit zu rechtfertigen.

Es handelt sich bei den Personen, denen lediglich an einer beschränkten Einzelhandelserlaubnis gelegen ist, nicht nur um eine verfassungsrechtlich unbeachtliche, aus dem Rahmen fallende besondere Gruppe. Eine Beschränkung des Sortiments ist, wie auch die dem Ausgangsverfahren zugrunde liegende Sachverhalt zeigt, aus technischen Gründen besonders für Unternehmer geboten, die Lebensmittelautomaten aufstellen und betreiben wollen. Dass diese Vertriebsform nicht eine völlig unerhebliche Unterart des Lebensmitteleinzelhandels darstellt, zeigt die wachsende Verbreitung derartiger Warenautomaten. Allerdings können nach dem Einzelhandelsgesetz gegenwärtig nur solche Personen Lebensmittelautomaten einsetzen, die eine allgemeine Lebensmitteleinzelhandelserlaubnis haben. Es ist daher anzunehmen, dass diese Unternehmer häufig darüber hinaus ein Ladengeschäft betreiben. Der Verkauf durch Automaten wird dort in der Regel nur den üblichen Vertrieb im Ladengeschäft ergänzen. Trotzdem ist nicht von der Hand zu weisen, dass es eine hinrechend große Zahl von Unternehmen gibt, die Lebensmittel allen über Automaten verkaufen oder verkaufen wollen. Das Interesse des Konsumenten an dieser Vertriebsform lässt sie auch für den Unternehmer wirtschaftlich bedeutsam erscheinen.

Bei einer solchen vielleicht zahlenmäßig kleinen, aber nach typischen Merkmalen deutlich abgrenzbaren Gruppe - Personen, die einen Lebensmitteleinzelhandel mit eng begrenztem Sortiment betreiben wollen - ist der Zugang zu dem begehrten Beruf von unverhältnismäßig strengen und weitgehenden Voraussetzungen abhängig. Soweit diese Personen jene Bedingungen nicht erfüllen, ist ihnen daher die Möglichkeit genommen, auch nur in sehr beschränktem Umfang mit Lebensmitteln zu handeln. Da das Einzelhandelsgesetz keine Möglichkeit vorsieht, diese Sonderfälle angemessen zu berücksichtigen, sie vielmehr unterschiedslos den allgemeinen Vorschriften unterwirft, ist bei der getroffenen Zulassungsregelung Art. 12 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 GG verletzt worden.

Die Entscheidung über die Art, in der die Sonderfälle des Berufes des Lebensmitteleinzelhändlers berücksichtigt werden sollen, obliegt dem Gesetzgeber. Er muss darüber befinden, ob und gegebenenfalls in welcher Weise auch bei einem Antrag auf Erteilung einer beschränkten Erlaubnis der Nachweis der Sachkunde zu verlangen ist. Das Bundesverfassungsgericht kann nur die Unvereinbarkeit der gegenwärtigen Regelung mit dem Grundgesetz feststellen.

(gez.) Benda Ritterspach Dr. Haager Dr. Böhmer Dr. Faller Dr. Brox Dr. Simon

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